Informationsaufnahme und -verarbeitung *)
Agus, Trevor R., Thorpe, Simon J. & Pressnitzer, Daniel (2010). Rapid Formation of Robust Auditory Memories: Insights from Noise. Neuron, 66, 610-618.
Bredenkamp, Jürgen, Wippich, Werner (1977). Lern- und Gedächtnispsychologie. Band II. Stuttgart: W. Kohlhammer.
Edelmann, Walter (1996). Lernpsychologie. Weinheim: Psychologie Verlags Union.
Fernandes, António M., Mearns, Duncan S., Donovan, Joseph C.,
Larsch, Johannes, Helmbrecht, Thomas O., Kölsch, Yvonne, Laurell, Eva,
Kawakami, Koichi, dal Maschio, Marco & Baier, Herwig (2020). Neural
circuitry for stimulus selection in the zebrafish visual system. Neuron,
doi:10.1016/j.neuron.2020.12.002.
Mietzel, Gerd (1986). Psychologie in Unterricht und Erziehung. Einführung in die Pädagogische Psychologie für Pädagogen und Psychologen. Zürich: Verlag für Psychologie.
Preim, Bernhard (1999). Entwicklung interaktiver Systeme. Berlin.
Shepherd, Jason D. (2018). An endogenous neuronal retrovirus? Seminars in Cell & Developmental Biology, 77, 73-78.
Vester, Frederic, Beyer, Günther, Hirschfeld, Malte (1996). Aufmerksamkeitstraining in der Schule. Wiesbaden: Quelle & Meyer GmbH & Co.
Sensorischer Speicher
Nachdem Sinnesorgane Reize aufgenommen haben, gelangen die Information zunächst in den Sensorischen Speicher. Gemäß der Arten der Sinnesorgane, von denen die Reize aufgenommen werden, kann ein visuelles Sensorisches Register (ikonisches Gedächtnis) für visuelle Darbietungen oder ein auditives (Echogedächtnis) bei akustischer Darbietung angenommen werden. Es gibt bei diesen Registern keine oder nur eine geringe Kapazitätsbegrenzung. Die Informationsaufnahme und -speicherung erfolgt automatisch, das heißt, es wird keine besondere Aufmerksamkeit auf die Reize gelegt. So können Informationen parallel und unabhängig voneinander gespeichert werden. Die Merkmale sind in diesem Stadium noch nicht kategorisiert oder nach ihrer Bedeutung klassifiziert worden. Die Aufnahme der zahlreichen Reize ist dadurch möglich, weil die sensorischen Register kaum über Kapazitätsbegrenzungen verfügen. Außerdem ist auch die Dauer der Speicherung äußerst begrenzt. Für das ikonische Gedächtnis kann eine Dauer von 250 msek bis max. 2 sek angenommen werden, für auditive Signale werden Werte von 2 sek angenommen (vgl. Bredenkamp 1977, S. 72).
Kurzzeitspeicher
Aufgrund der begrenzten Speicherkapazität ist es schwierig sich zum Beispiel Binärzahlenfolgen, wie 0110 1011 0111 1100 zu merken. Kodiert man aber die Zahlenfolge hexadezimal, so entsteht 6B7C und diese Abfolge kann leicht behalten werden. Solche Informationskodierungen stellen eine große Hilfestellung für das Kurzzeitgedächtnis dar. Dasselbe passiert, wenn man versucht Eselsbrücken zu bauen. Die Informationsmenge wird dann anders strukturiert und in ihrer Komplexität reduziert. Eine geringere Anzahl an zu speichernden Elementen kann erheblich länger behalten werden, als dies bei mehreren Elementen der Fall ist. Zum Beispiel beträgt die Speicherdauer bzw. Behaltensdauer von einer Einheit 130 Sekunden, bei drei Einheiten nur noch 15 Sekunden (vgl. Preim 1999, S. 183f).
Langzeitspeicher
Der Speicher des Langzeitgedächtnisses ist im Gegensatz zum Kurzzeitgedächtnis praktisch unbegrenzt. Dort werden Informationen, die für längere Zeit zur Verfügung stehen sollen, gespeichert. Es wird davon ausgegangen, dass die Inhalte des Langzeitspeichers semantisch kodiert sind. Atkinson und Shiffrin betonen für diesen Speichervorgang vor allem das Wiederholen, das für die Übertragung vom Kurzzeitspeicher in den Langzeitspeicher eine wesentliche Rolle spielt. Die Behaltensdauer beträgt zwischen Minuten und Jahrzehnten und hängt von der Qualität und Intensität des Einprägens ab. Die abgelegten Einheiten sind miteinander verknüpft und geordnet. Sobald sie abgerufen werden sollten, bedarf es eines Abrufreizes. Fehlt zu einer Einheit allerdings die Zugriffsmöglichkeit, kann sie nicht mehr abgefragt werden und ist somit vergessen. Es gibt die These, dass einmal im Langzeitspeicher abgelegte Informationen nicht verloren gehen, ein „Vergessen“ in diesem Sinne nicht möglich ist. Jedoch kann es, wenn man zum Beispiel unter Druck steht o.Ä., zu Überlagerungen und Verwechslungen von Informationen kommen, die den Erinnerungsvorgang einschränken oder gänzlich verhindern (vgl. Preim 1999, S. 184f, Parkin 1996, S. 12).
Hat ein Virus zum Langzeitgedächtnis geführt?
Das neuronale Gen Arc ist für die lang anhaltende Informationsspeicherung im Gehirn von Säugetieren unerlässlich und wird mit verschiedenen neurologischen Störungen in Verbindung gebracht, wobei Arc etwa in der Lage ist, den Transport der RNA von Zelle zu Zelle zu vermitteln. Über die evolutionären Ursprünge von Arc ist jedoch wenig bekannt. Studien von Shepherd (2018) deuten darauf hin, dass es sich bei dem Protein Arc um das Überbleibsel eines Virus handeln könnte. Möglicherweise hat eine zufällige Begegnung mit einem Vorfahren des Retrovirus vor Hunderten von Millionen Jahren dazu geführt hat, dass dieser sein genetisches Material in ein Säugetier injizierte, sodass Arc nun eine zentrale Rolle in der menschlichen Gedächtnisfunktion spielt.
[Quelle: http://www.regiosurf.net/supplement]
Hohe neuronale Plastizität des akustischen Gedächtnisses
Die akustische Wiederholung ermöglicht es dem menschlichen Gehirn, auch sehr komplexe Geräusche bzw. Tonfolgen schnell, effektiv und langfristig zu speichern. In einem Experiment von Agus et al. (2010) spielte man ProbandInnen willkürliche und zufällig aufeinander folgende Tonfolgen vor, wobei in diesen wiederholt ein komplexes akustisches Motiv auftrat. Die Versuchspersonen brauchten nur zwischen zwei und zehn Hörversuchen, um dieses Motiv sicher zu erkennen, d.h., die Wiederholung führte zu sehr schnellem und effektivem Lernen, wobei das Behalten des Motivs mehrere Wochen anhielt. Man vermutet hinter diesem schnellen Lernen eine hohe neuronale Plastizität, bei der ein akustisches Neuron seine Reaktion in eine akustische Stimulierung umwandeln kann.
Das Zusammenspiel der Speicher
Sobald eine Informationsmenge in den sensorischen Speicher gelangt, werden die Inhalte mit dem Langzeitspeicher, welcher Namen und Begriffe enthält, verglichen. Hierbei werden die Informationen gefiltert, bestehenden Kategorien zugeordnet und in symbolischer Form im Kurzzeitspeicher abgelegt. Ab diesem Zeitpunkt kann von einer Wahrnehmung gesprochen werden und die Daten können Grundlage für eine willkürliche Handlung darstellen. Werden nun die Daten aus dem Kurzzeitspeicher mehrmals erinnert, so gelangen sie schließlich in den Langzeitspeicher. (vgl Preim, 1999, S. 186f).
Information |
Sensorischer Speicher |
Kurzzeitgedächtnis |
Langzeitgedächtnis |
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Übersicht zum Multi-Speicher-Modell (Daten aus Preim, 1999, S. 186, Vester, 1996, S. 9).
Wie das Gehirn zwischen Reizen priorisiert
Bei der Navigation in der Umwelt müssen Tiere aber auch Menschen ihre Reaktionen auf die relevantesten Reize priorisieren, denn bei der Flut an Reizen, die ununterbrochen auftauchen, ist es unmöglich auf alles zu reagieren. Fernandes et al. (2020) haben bei larvalen Zebrafischen nun einen neuronalen Schaltkreis entschlüsselt, mit dem diese optische Eindrücke priorisieren, denn von Fressfeinden umgeben kann ein Fisch sich immer nur so für einen Fluchtweg entscheiden. Mit Virtual Reality simulierte man zwei Fressfeinde, die mit gleicher Geschwindigkeit von links und rechts auf den Fisch zukommen, wobei sich in den meisten Fällen die Fische auf einen der beiden Fressfeinde konzentrierten und in die entgegengesetzte Richtung flüchteten. Sie kalkulierten dabei also nur einen Stimulus in ihren Fluchtweg ein. Man fand dabei zwei neuronale Schaltkreise, deren Aktivitätsmuster die relativen Salienzwerte von konkurrierenden visuellen Objekten vorhersagten. Stimuli, die nur einem Auge präsentiert wurden, wurden durch Winner-take-all-Berechnungen in der inneren Retina ausgewählt. Binokular präsentierte Reize hingegen wurden durch reziproke, bilaterale Verbindungen zwischen dem Nucleus isthmi und dem Tectum verarbeitet, wobei diese interhemisphärische Berechnung zu Winner-take-all oder Mittelwertbildungsantworten führte. Optogenetische Stimulation und Laserablation von Nucleus isthmi-Neuronen störten aber die Reizselektion und die Auswahl von Verhaltensweisen, wodurch man so nach und nach den Schaltkreis zwischen den beiden Gehirnregionen entschlüsselte: die Neuronenfortsätze des Tectums laufen zum Nucleus isthmi und dessen Zellen wieder zum Tectum zurück, wodurch eine Rückkopplung entsteht, die die Signale der Winner-take-al-Stimuli im Gehirn verstärkt und alle anderen, als unwichtig eingestuften Eindrücke, unterdrückt. Als Entscheidungsgrundlage ermöglicht dies dem Fisch, auf wichtige Reize zu reagieren und unwichtige zu ignorieren.Bedeutungsverarbeitung von Wörtern und Sätzen im Gehirn
Untersuchungen in den USA haben übrigens gezeigt, dass es bei der Bedeutungsverarbeitung von Wörtern und Sätzen für das Gehirn kaum einen Unterschied macht, ob die Texte gelesen oder gehört werden. ProbandInnen hatten zuerst Texte leise gelesen und genau diese Texte dann noch einmal zu hören bekommen, wobei man während des Lesens und Hörens mit Hilfe der funktionellen Magnetresonanztomographie die Gehirnaktivitäten erfasste. Zuvor war die Bedeutung von jedem Wort mit Hilfe der natürlichen Sprachverarbeitung (Natural Language Processing, einem Teilgebietes der AI) kodiert worden, sodass die Bedeutung des gelesenen bzw. gehörten Wortes im Gehirn verortet werden konnte. Mit Hilfe des maschinellen Lernens clusterte man danach die so modellierten Gehirndaten nach Modalitäten wie visuell, taktil, numerisch, lokal, gewalttätig, emotional, temporal etc. So aktivieren etwa Wörter des Bedeutungsclusters sozial (Vater, Mutter, Sohn, Tochter, Kind, Oma, Opa etc.) gehören, unter jenes Gehirnareal, in dem sich die temporalen und parietalen Lappen treffen, oder Wörter des Bedeutungsclusters Körperteil (Lippen, Arm, Fuß, Nacken, Schädel, Bauch, Glied usw.) gehören, überwiegend das Gehirnareal im visuellen Cortex. Als man dann die Daten der Gehirnaktivität beim Lesen und mit denen beim Hören verglich, zeigte sich, dass es für die Bedeutungsverarbeitung der Wörter und Sätze im Gehirn keinen Unterschied macht, ob sie gelesen oder gehört wurden, d. h., die Bedeutungsverarbeitung findet bei beiden Fähigkeiten in den gleichen Gehirnregionen statt. So konnte man eine Landkarte von Wort- und Satzbedeutungen auf dem menschlichen Cortex anfertigen, um damit die Gehirnaktivierungen in bestimmten Gehirnregionen, die die Bedeutung von Wörtern verarbeiten, mit Hilfe von Modellen vorherzusagen zu können.Erinnern und Vergessen
Durch das Multi-Speicher-Modell wird erklärt, wie Informationsaufnahme, die i.e.S auch Lernen genannt wird (vgl. Edelmann 1996, S. 3), und Informationsspeicherung funktionieren. Aber die Speicherung allein reicht nicht für eine erfolgreiche Informationswiedergabe aus. Wir müssen uns auch noch an die Informationen erinnern und die Daten abrufen, was auch als Leistung bezeichnet wird (vgl. Edelmann 1996, S. 3). Oft gelingt es aber nicht mehr die abgelegten Inhalte abzurufen – wir haben sie vergessen. Im Bereich der Vergessenstheorien gibt es verschiedene Ansätze, welche die Bedingungen für das Vergessen klären. Die drei bekanntesten beschreibt Mietzel (1998, S. 180 ff.):
Theorie des Spurenverfalls
Bei dieser Theorie wird das Erinnern und Vergessen mit Spuren im Sand verglichen. So, wie die Spuren im Sand nach gewisser Zeit verschwinden, so gehen auch die gelernten Inhalte nach einiger Zeit verloren. Dadurch kann erklärt werden, warum früher Gelerntes wieder vergessen wird.
Dieser Theorie ist aber entgegen zu halten, dass die Zeit allein nichts verursachen kann. Vielmehr sind es andere Kräfte und Einflüsse, die hier wirksam werden. Dies kann durchaus auch beim Gedächtnis der Fall sein. Mietzel geht allerdings nicht darauf ein, welche Kräfte und Einflüsse dies wären, die im Lauf der Zeit wirksam werden und ein Erinnern erschweren.
Die Interferenztheorie
Interferenz bedeutet Störung und meint in Bezug auf Vergessen, dass beim Lernen verschiedener Lerninhalte sich diese Inhalte gegenseitig stören können. Werden die neu zu lernenden Inhalte von bereits Gelerntem beeinträchtigt, so spricht man von „proaktiver Hemmung“. Passiert die Interferenz in umgekehrter Richtung, stört also ein neuer Inhalt die Wiedergabe von bereits Gelernten, so wird dies „retroaktive Hemmung“ genannt. Interferenzen treten vor allem dann auf, wenn neuere und frühere Lerninhalte sehr ähnlich sind. Zum Beispiel, wenn im Anschluss an Englischvokabeln Spanischvokabeln gelernt werden.
Fehlen geeigneter Abrufreize
Wie bereits beim Langzeitspeicher erklärt, gibt es die These, dass Inhalte, sobald sie im Langzeitspeicher sind, nicht mehr gelöscht werden. Jedoch kann es vorkommen, dass sie nicht mehr abrufbar sind, weil die geeigneten Abrufreize fehlen. Ob Inhalte aus dem Langzeitspeicher wirklich nicht verloren gehen können, ist ungewiss. Es ist aber sicher, dass unter bestimmten Bedingungen, Inhalte schwerer abrufbar sind. Zum Beispiel kann gesteigerte Angst, Besorgnis oder unzureichende Aufmerksamkeit zu Gedächtnisausfällen führen. Nach Beendigung des Erregungszustandes können die Inhalte aber wieder voll zugänglich sein.
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