Phänomen - Begriffsbestimmung
1. Platon unterscheidet zwischen Phänomen
(Erscheinung) und Idee. Ein Pferd z. B. gehört zu den
Phänomenen, während die Idee des Pferdes in dem
besteht, was alle konkreten (und möglichen) Pferde als
Pferde auszeichnet, ihrem gemeinsamen Wesen.
Die Idee ist ewige Einheit, immer dieselbe und
unveränderlich; die Phänomene dagegen sind
mannigfaltig, verstreut in Zeit und Raum, verschieden und
dauernder Veränderung unterworfen. Nur dem Anschein
nach liegt daher in den Phänomenen Wirklichkeit; die
eigentliche Wirklichkeit ist die Idee. Sie läßt
sich mit Hilfe der Vernunft schauen, während die
Phänomene an das unsichere Zeugnis der Sinne
gebunden sind. Im Platonismus rückt das Phänomen
in eine Nähe zum bloß Scheinhaften; allerdings
steht und fällt diese Deutung mit der Lehre von den
dahinterstehenden ewigen Ideen als der eigentlichen
Wirklichkeit. Wird sie aufgegeben, erhält das
Phänomen zwangsläufig einen anderen Status.
2. Für den naiven Realismus gibt es zwischen den wahrnehmbaren Phänomenen und der Wirklichkeit, wie sie an sich ist, keinen Unterschied. Beides ist unmittelbar identisch.
3. Der kritische Realismus definiert dagegen die Phänomene als Bewußtseinszustände, die durch die Wahrnehmung und in ihr gegeben sind. Sie spiegeln die dahinterstehende Wirklichkeit nicht unmittelbar wider. Aber sie sind Zeichen dafür: Aus der Art, in der die Phänomene auftreten, läßt sich die Wirklichkeit erschließen.
4. Eben dies bestreitet Kant. Phänomen ist für ihn "Erscheinung", Gegenstand der Erfahrung, das Ding, wie es sich dem Wahrnehmenden zeigt. Wie es als "Ding an sich", d.h. unabhängig von aller Wahrnehmung, beschaffen ist und welches Verhältnis es zwischen dem Ding an sich und dem Ding als Erscheinung gibt, darüber kann nichts gewußt werden.
5. Noch einen Schritt weiter geht der Phänomenalismus. Er verneint sogar die Existenz des Dings an sich. Die Wirklichkeit besteht in nichts anderem als den wahrgenommenen (oder wahrnehmbaren) Phänomenen selber.
6. Die Phänomenologie des 20. Jh. klammert die Frage, ob es über die Phänomene hinaus etwas gibt, ein. Zugleich wird der Begriff Phänomen ausgeweitet und umfaßt nun alles, was einem Bewußtsein direkt gegeben sein kann.
J. Mittelstraß: Die Rettung der Phänomene, 1963.
H. R. Schweizer/A. Wildermuth: Die Entdeckung der Phänomene, 1981.
Philosophielexikon/Rowohlt-Systhema
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