Edmund Husserl (1859-1938)
deutscher Philosoph, studierte Mathematik in Leipzig, Berlin und Wien. Philos. Studien bei Brentano in Wien 1883-86. 1887 Habilitation bei C. Stumpf in Halle. 1887-1901 Privatdozent in Halle, 1901 a. o. Prof. und 1906 o. Prof. für Philos. in Göttingen, 1916-28 in Freiburg i. B. Zu den Assistenten Husserls gehörten Edith Stein (1916-18), Heidegger (1917-23), Landgrebe (1923-30) und Fink (1928-36).
Husserl sucht die Grundlage jeder alltäglichen, wissenschaftlichen und philosophischen Erkenntnis im konsequenten Abstrahieren von jeder vorgefassten Meinung. Die einzigen Voraussetzungen, die für Husserl gültig bleiben, sind: daß Erkenntnis sich in Bewusstseinsakten vollzieht und daß es möglich ist, eine reine (d. h. theoriefreie) Beschreibung des sich in solchen Erkenntnisakten Zeigenden zu geben. Husserl nimmt anfangs keine Stellung dazu, ob das erkennende Bewusstsein an ein Ich, an einen Körper oder eine physische Umwelt geknüpft ist; er spricht sich auch nicht über die Gesetze aus, die für die Erkenntnis und für das Erkannte gelten. Statt dessen konzentriert er sich auf eine genaue Beschreibung der Erfahrung und des Erfahrenen, das sich in den theoretisch gereinigten Erkenntnisakten zeigt. Das, was sich direkt in solchen Erkenntnisakten zeigt, nennt Husserl die Phänomene und deren Beschreibung Phänomenologie.
Husserls zentrales Beispiel ist das Wahrnehmungs- (oder Perzeptions)Phänomen, die Erfahrung eines Dings in einem Wahrnehmungsakt. Aber Husserl beschreibt auch andere Akttypen, z. B. Erinnerungs- und Erwartungsakte, Vorstellungsakte und Akte der Phantasie. Hinzu kommen Akte, in denen das Bewusstsein auf einen Wert, einen Zweck oder nicht wahrnehmbare (ideelle) Gegenstände wie Zahlen, geometrische Figuren oder Mengen und Ganzheiten gerichtet ist. Durch diese Beschreibungen kommt Husserl zu dem Schluss, daß es einen allen Bewusstseinsakten gemeinsamen Grundzug gibt, nämlich die sog. Intentionalität (Gerichtetheit). Mit ihrer Hilfe kann in jedem Fall zwischen dem Bewusstseinsakt und dem, worauf der Akt gerichtet ist, unterschieden werden. Husserl gelangt zu diesem Ergebnis durch die sog. Wesensschau, die es ermöglicht, über die faktisch vorliegenden Akte hinauszugelangen und diese mit Hilfe der Phantasie zu variieren bis zu dem Punkt, wo keine weitere Variation mehr möglich ist. Wenn dieser Punkt, als Resultat der phantasierenden Variation, erreicht ist, liegt nach Husserl eine Einsicht in eine Wesensnotwendigkeit vor. So ist es zwar möglich, sich Bewusstseinsakte mit verschiedenem Inhalt und von verschiedener Art vorzustellen, aber es ist nicht möglich, sich einen Bewusstseinsakt ohne jeden Bezug auf einen Gegenstand (z. B. ein Ding, einen Wert, einen Sachverhalt, eine abstrakte Größe) vorzustellen. Ob der Gegenstand tatsächlich existiert oder nicht, ist hier gleichgültig; ebenso ist es gleichgültig, ob sich das Bewusstsein in seiner Beschreibung des Erlebten irrt oder nicht. Das Entscheidende ist in allen Fällen die Intentionalität des Bewusstseins (seine Gerichtetheit).
Husserl ist nun auch imstande - neben dem generellen Wesenszug jedes Bewusstseins -, die speziellen Wesenszüge bestimmter Akttypen zu bestimmen. So versucht Husserl z. B., eine Reihe von Wesensunterschieden zwischen Wahrnehmungs- und Erinnerungsakten zu bestimmen, und er gibt eine Erklärung des Zusammenhangs zwischen bestimmten Akttypen und bestimmten Gegenstandstypen. Ein gegenständliches Ding muss z. B. auf andere Weise erfahren werden als eine Zahl oder eine geometrische Figur. Aufgabe der Phänomenologie ist es, den Blick für die verschiedenen Gegebenheitsweisen zu schärfen sowie das direkt Gegebene (die Phänomene) zu beschreiben.
Bei dieser Beschreibung zeigt es sich, daß einige Akttypen andere voraussetzen. So kann ich den Sachverhalt "Die Katze ist schwarz" nur dann erfahren, wenn ich die Katze als Wahrnehmungsding erfahre; die Erfahrung von Sachverhalten setzt demnach die Wahrnehmungserfahrung voraus. Husserl drückt dies so aus, daß die fundamentaleren Erfahrungsarten (Akttypen) für andere Erfahrungsarten konstituierend sind. Die Lehre von der Konstitution finden wir bereits in Husserl Frühschriften (um das Jahr 1900). Später benutzt er sie als Grundlage für seine sog. transzendentale Phänomenologie. Begnügte er sich um 1900 noch mit Beschreibungen der Phänomene (der intentionalen Akte), sieht er es von etwa 1913 an als seine Aufgabe an zu zeigen, daß alle Phänomene von dem sog. transzendentalen Ich konstituiert sind. "Transzendental" heißt etwas, "das der Erfahrung vorausgeht und ihren Charakter bedingt". Bestimmte Erfahrungsarten verweisen auf fundamentalere Erfahrungsarten und diese auf das Ich, das als Erfahrungsgrundlage allen Akten vorausgeht. Das Ich in dieser Bedeutung ist von dem empirischen Ich verschieden, welches an Raum und Zeit und eine bestimmte Person gebunden ist. Das transzendentale Ich ist die Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung überhaupt, auch der Erfahrung des empirischen Ich. Das methodisch gesteuerte, stufenweise Zurückführen aller Meinungen und alles Wissens auf Erfahrungen, die mit dem transzendentalen Ich verbunden sind, nennt Husserl die phänomenologische Reduktion.
In seinen letzten Jahren entwickelte Husserl seine Konstitutionslehre zu einer Theorie, für die das transzendentale Ich mit der sog. Lebenswelt, d. h. einer je wahrnehmbaren, konkreten, geschichtlichen Welt, verbunden ist. Die Erfahrung meiner selbst in dieser Welt ist nach Husserl Voraussetzung aller anderen Erfahrungen, auch der wissenschaftlich "abstrahierenden".
Literatur
Philosophielexikon/Rowohlt-Systhema
Hügli, A. & Lübcke, P. (Hrsg.) (1991). Philosophielexikon. Personen und Begriffe der abendländischen Philosophie von der Antike bis zur Gegenwart (S. 268-280). Reinbek: Rowohlt.
J. M. Brockman: Phänomenologie und Egologie, 1963.
E. Fink: Die phänomenologische Philos. E. H. in der gegenwärtigen Kritik. In: Studien zur Phänomenologie, 1966.
K. Held: Lebendige Gegenwart, 1966. Ders.: H. In: O. Höffe (Hg.): Klassiker der Philos. II, 1981.P. Janssen: E. H. Einführung in seine Phänomenologie, 1976. L. Kolakowski: Die Suche nach der verlorenen Gewißheit. Denkwege mit E. H., 1977.
L. Landgrebe: Der Weg der Phänomenologie, 1963.
W. Marx: Die Phänomenologie E. H., 1987.
H. Noack (Hg.): H., 1973. H. R. Sepp (Hg.): E. H. und die phänomenologische Bewegung, 1988.
E. Ströker (Hg.): Lebenswelt und Wissenschaft in der Philos. E. H. 1979.
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