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Die Abduktion
eine logisch unerlaubte Art des Schließens

Hypotheses (=Abduktion; W.S.) give us our facts. Induction extends our knowledge.
Deduction makes it distinct.
Charles Sanders Peirce

Was ist Abduktion?

"Abduktion" ist ein Begriff aus der Logik und bezeichnet Schlußfolgerungen, bei denen unbekannte Ursachen aus bekannten Effekten oder Konsequenzen abgeleitet werden.

Die Abduktion wurde von Charles Sanders Peirce 1867 neben der Deduktion und der Induktion in die Logik eingeführt und bietet die Möglichkeit syllogistischen Schließens zur Erklärung überraschender Tatsachen, bei der vom Resultat und von der Regel auf den Fall geschlossen wird. So läßt sich beispielsweise aus der Regel "Alle Kartoffeln in dieser Kiste sind braun" und dem Resultat "Kartoffeln sind braun" der formale Fall "Diese Kartoffeln sind aus dieser Kiste" rekonstruieren. Abduktion ist daher die einzige logische Operation, die in eine logische Argumentation irgendeine neue Idee einführen kann, indem sie in einem ersten Schritt eine "problematische" Theorie in Form einer "Vor-Aussage" hinsichtlich eines bestimmten Erwartungshorizontes aufstellt. Die logischen Konsequenzen dieser zunächst hypothetischen Aussage werden meist deduktiv ermittelt und ihre möglichen praktischen Konsequenzen induktiv geprüft. Die Abduktion ist der einzige "echt synthetische" Schlußmodus, da sie nicht nur eine Erklärung für einen rätselhaften oder überraschenden Umstand findet, sondern auch neue Theorien erfindet (vgl. Wirth 1995).

Abduktives Schließen liegt z.B. der klinischen Diagnostik, der Fehlersuche in technischen Systemen, der juristischen Interpretation von Sachverhalten und vielen Kausalattributionen des Alltags zugrunde. Eine Reihe empirischer Befunde legt nahe, daß derartige Schlußfolgerungen systematisch von normativen Modellen der Logik abweichen. 

Generell betrachtet bleibt für die Abduktion offen, inwieweit sie neben Deduktion und Induktion überhaupt eine Form des Schließens sein kann. Es hängt die Beantwortung dieser Frage nach Altenseuer (2000) allein davon ab, "welches Vorverständnis man vom Begriff des Schlusses und des Schließens mitbringt", der überhaupt darauf verzichtet, die Abduktion explizit als "Schluß" zu bezeichnen: "Dieser Verzicht hat zwar keine guten Gründe, aber es hängt auch nichts daran, ob man den Prozeß der Generierung von Hypothesen nun als "Schluß" oder aber als "Suche" bezeichnet. Entscheidend ist allein die Frage, wie Hypothesen gebildet werden".

Siehe auch diese Definitionen von Abduktion

Arbeitskreis für Abduktionsforschung an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main koordiniert von Uwe Wirth und Alexander Roesler.


Im einfachsten Fall wird bei abduktiven Schlüssen aus der Aussage, daß A die Ursache von B ist und aus dem Vorliegen von B A als Ursache abgeleitet.

Zum Beispiel: Wenn es regnet, ist die Straße naß. Die Straße ist naß, also hat es geregnet.

Derartige Schlußfolgerungen sind Grundlage der medizinischen Diagnostik, der Fehlersuche in technischen Systemen oder in Computerprogrammen und letztlich auch des wissenschaftlichen Entdeckens. Für sie ist charakteristisch, daß eine Menge von - bekannten - Beobachtungen oder Evidenzen durch eine Konfiguration von - unbekannten, aber wahrscheinlichen - Ursachen "erklärt"werden muß.

Einen komplizierteren Fall stellen multikausale Problemkonstellationen dar. Es handelt sich dabei um abduktive Schlüsse, bei denen gleiche Symptome verschiedene Ursachen und gleiche Ursachen unterschiedliche Symptome haben können. Die beste Kausalerklärung von Evidenzen besteht hier nicht aus einer einzelnen Annahme, sondern sie ist aus mehreren Einzelhypothesen zusammengesetzt. 

In formallogischer Hinsicht handelt es sich bei Abduktion um eine "ungültige" Form des Schließens:

Eine konditionale Aussage (Wenn A dann B) wird bikonditional interpretiert (Wenn A dann B, also auch: wenn B dann A).

Für die Ableitung der besten Multikausalerklärung kann bei abduktiven Schlüssen im Unterschied zu Deduktion im strengen Sinne kein normatives Verfahren angegeben werden. Um algorithmische Verfahren dennoch anwenden zu können, sind zusätzlich Annahmen notwendig, etwa zur Vollständigkeit der Menge der Ursachen. 

Es ist für Abduktion charakteristisch, daß die dem Problemlöser verfügbaren Daten nicht ausreichen, um unmittelbar einen bereichsspezifischen Mechanismus anwenden zu können, der zwingend - deduktiv - die Ableitung von Ursachen erlaubt: Es gibt jeweils viele Möglichkeiten, von denen jene auszuwählen ist, die zusätzliche Kriterien wie Einfachheit, Vollständigkeit, Kardinalität etc., am besten erfüllt.

Menschen sind - trotz der Komplexität in formaler und auch psychologischer Hinsicht - sehr wohl zu effizienten Problemlösungen in der Lage. Die kognitionspsychologisch interessante Frage lautet dann: Welche Kriterien verwenden Personen in der kausalen Interpretation von Evidenzen, um die Komplexität der Aufgabe zu bewältigen?

Spezifischer ist danach zu fragen, welche Mechanismen eingesetzt werden, um die Anzahl möglicher Kausalerklärungen für einzelne Daten jeweils zu reduzieren und welche Verfahren angewandt werden, um die konkurrierenden Hypothesen für einzelne Evidenzen in eine einzige, "beste"Multikausalerklärung zu integrieren. In der Forschungsliteratur wurden u.a. die Faktoren Breite und Einfachheit der Erklärung, Kardinalität und Häufigkeitsverteilung der Symptom/Ursachemuster diskutiert.

Ein Prozeßmodell abduktiven Schließens

Eine allgemeine Theorie abduktiven Schließens, die kognitions-psychologische Plausibilität beansprucht, wurde von Johnson, Krems und Amra (1994) und Krems und Johnson (1995) vorgeschlagen. Diese Theorie geht davon aus, daß abduktives Schließen als ein Verstehensprozeß zu beschreiben ist, bei dem in einem sequentiell organisierten Vorgang ein Situationsmodell, das sowohl Evidenzen wie Ursachen enthält, erweitert und interpretiert wird.

Es wird angenommen, daß Abduktion nicht durch die Anwendung aufgaben- und bereichsinvarianter, universeller Inferenzmechanismen geschieht, sondern daß Probanden die ihnen jeweils verfügbaren Informationen verwenden, um ein internes Referenzmodell, also eine Repräsentation der wichtigen situativen Elemente aufzubauen, aus dem sie dann ihre Schlußfolgerungen ableiten. Dieses Situationsmodell bildet die zentrale Datenstruktur, auf der alle weiteren Prozesse durchgeführt werden. Es enthält sowohl Evidenzen, also Daten, als auch die jeweils aktuellen Vermutungen, die Kausalhypothesen. Die folgenden Annahmen charakterisieren den Verarbeitungsprozeß: 

  1. Verfügbarkeit: Falls eine Erklärung verfügbar ist, die alle Evidenzen konsistent erklärt, wird sie unmittelbar akzeptiert. Falls Alternativen gegeben sind, wird diskriminiert. Falls keine Erklärung vorhanden ist, wird ein Suchprozeß angestoßen, für den die folgenden Eigenschaften gelten: 
  2. Begrenzte Suche: In der Ableitung und Suche von Erklärungen sind Ressourcen-Beschränkungen des Verarbeitungssystems zu berücksichtigen. 
  3. Minimumsorientierte Suche: In der "Erklärung"von Evidenzen wird zunächst nur ein, nämlich das erste passende, die Daten vollständig erklärende Modell entwickelt. Dies gilt bei deduktiven Schlüssen. Es gilt besonders bei abduktiven Schlüssen, da für diese ja konstitutiv ist, daß stets eine Vielzahl möglicher Erklärungen in Betracht kommt, die nie vollständig entwickelt werden kann. 
  4. Wissenskompilierung: in einem Suchvorgang abgeleitete Erklärungen sind unmittelbar in späteren, ähnlichen Situationen verfügbar. Damit wird zum späteren Zeitpunkt Suche überflüssig, bzw. es kann von einem bereits fortgeschrittenen Punkt aus weitergesucht werden. Diese Hypothese bildet den Kern der Lerntheorie. 

Im Rahmen der qualitativen Sozialforschung wird der abduktive Schluß dann gezogen, wenn man zu einer gegebenen Beobachtung eine mögliche allgemeine Gesetzmäßigkeit sucht, die diese Beobachtung erklären könnte. Die Ungesichertheit des abduktiven Schlusses beruht darauf, daß es prinzipiell nicht sicher ist, daß der Forscher unter der unendlichen Vielzahl der möglichen Gesetzmäßigkeiten gerade die richtige ausgewählt hat. Befinden sich unter den hypothetisch zur Erklärung erwogenen Gesetzmäßigkeiten nur "falsche", so kann auch im Prozeß des Ausscheidens unzutreffender Hypothesen am Ende die zutreffende Erklärung nicht übrig bleiben.

Peirce selber hatte Bedenken gegenüber einer möglichen Zügellosigkeit bzw. Beliebigkeit von Abduktionen, denn er band sie an eine deduktive Überprüfung. Hypothesen müssen daher auch dadurch geprüft werden, indem die unterstellten Phänomene untersucht und indem alle möglichen Konsequenzen überprüft werden, die aus der Wahrheit der Prämissen folgen würden.

Das Problem des abduktiven Schlusses in den Wissenschaften beruht darauf, dass es prinzipiell nicht sicher entscheidbar ist, ob der Wissenschaftler unter der theoretisch unendlichen Vielzahl von möglichen Gesetzmäßigkeiten zur Erklärung eines Sachverhaltes gerade die richtige ausgewählt hat. Befinden sich nämlich unter den zunächst hypothetisch erwogenen Gesetzmäßigkeiten ausschließlich falsche Erklärungen - was bei einer großen Anzahl von Hypothesen auf Grund der Erfahrung eher selten vorkommen mag-, so kann auch im Prozess des Ausscheidens unzutreffender Hypothesen am Ende keine zutreffende Erklärung übrig bleiben. Hier spielen letztlich auch forschungsökonomische und wissenschaftsgeschichtliche Aspekte eine gewisse Rolle.

Beispiele für Abduktion

Vergleich der Schlußformen Deduktion, Abduktion, Induktion

Siehe auch: Zusammenspiel von Induktion, Deduktion und Abduktion beim Lernen des Kindes

Quellen & Literatur

Altenseuer, Timo (2000). Abduktion: Die Bildung einer Hypothese.
WWW: http://www.uni-bielefeld.de/idm/forschung/publikation/
occpaper/occ160/occ160k3.htm (02-02-02)
Bauer Axel W. (2000). Deduktion, Induktion, Abduktion und die hypothetisch-deduktive Methode in den empirischen Wissenschaften.
WWW: http://www.uni-heidelberg.de/institute/fak5/igm/g47/bauerabd.htm (01-06-26)
Krems, Josef (o.J.). Schließen von Folgen auf Ursachen: Induktiv, deduktiv oder abduktiv?
WWW: http://private.addcom.de/eFelix/Politik/induktiv_deduktiv.htm (00-03-26)
Krems, J. & Johnson, T. (1995). Integration of Anomalous Data in Multicausal Explanations (S. 277-282). In J. Moore & J. Lehman (Eds.), Proceedings of the 17th Annual Conference of the Cognitive Science Society. Hillsdale: Erlbaum.
Peckhaus, Volker (1999). Abduktion und Heuristik.
WWW: http://www.phil.uni-erlangen.de/~p1phil/personen/peckhaus/texte/abduktion.html (02-02-02)
Wirth, Uwe (1995). Abduktion und ihre Anwendungen. Zeitschrift für Semiotik, 17, 405-424.
Wirth, Uwe (1999). Diskursive Dummheit. Abduktion und Komik als Grenzphänomene des Verstehens. Heidelberg: Winter.
Microsoft Encarta 1999.
Bild: http://med.uni-hd.de/igm/g47/bafelix.gif



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