Pubertät
Hier sollen thesenartig einige Aspekte dieser Sturm-und.Drang-Zeit beleuchtet werden. In einer neueren neurologischen Studie fand man, dass etwa ab dem elften Lebensjahr ein Umbau von Nervenverbindungen im Gehirn stattfindet. Diese Neustrukturierung vor allem im Stirnhirn ist vermutlich teilweise an den wechselnden Launen und Gemütslagen pubertierender Jugendlicher schuld, denn durch diese Umstrukturierung verlieren diese viel von ihrer Fähigkeit, die Gefühle anderer Menschen und soziale Szenarien einzuschätzen. Daraus resultiert Unsicherheit und Verwirrung in emotionalen Situationen, sodass Jugendliche dieses Alters gereizt und launisch reagieren. Erst mit etwa 18 Jahren erreicht das soziale Gespür wieder sein ursprüngliches Niveau. Aber nicht nur Fehlurteile und Risikobereitschaft sind für junge Menschen typisch, sondern Pubertierende reagieren auch stärker auf Belohnungen als Kinder oder Erwachsene. Jugendliche bewerten soziale Situatioenn einfach völlig anders, vor allem, wenn es um Entscheidungen geht. Die Amygdala macht aus rationalen Überlegungen immer wieder emotionale Gefühlsausbrüche, denen man als Erwachsener meist unvermittelt gegenüber steht. Die Pubertät ist auf Grund dieser gehirnorganischen Entwicklungen für Jugendliche wie für Eltern eine Zeit voller Missverständnisse und für beide Seiten anstrengend, da die geforderten vernunftorientierten Entscheidungen bei den Jugendlichen kaum stattfinden. Läuft die Pubertät ohne Konflikte ab, gibt es nach Ansicht mancher Experten eher Anlass zur Sorge, denn dann findet kein Ablösungsprozess statt, der irgendwann doch nachgeholt werden muss.
Jörg Undeutsch, Leiter einer Schweizer sozialtherapeutischen Wohn- und Werkgemeinschaft, fasst diese Probleme zwischen Pubertierenden und Erwachsenen in zwölf teilweise provokanten Thesen zusammen, die hier verkürzt wiedergegeben werden.
- Die Pubertät ist unvermeidbar und ist ein notwendiger Entwicklungsschritt, ein Individualisierungsschritt, in der Verwandtschafts- und Familienbeziehungen, Schicht- und Klassenzugehörigkeit, Traditionen und überlieferte Verhaltensweisen eine immer geringere Rolle spielen. In der es Aufgabe eines jedes einzelnen Menschen ist, mehr als je zuvor, seinen eigenen Weg zu finden, seine individuelle Aufgabe, seinen Platz in der Welt. Die Pubertät zeigt sich nicht bei allen Jugendlichen gleich deutlich im Verhalten. Auch relativ heftige Erscheinungsformen sind durchaus "normal" - wenn sie auch mitunter schwer auszuhalten sind.
- Die innere Unabhängigkeit und Eigenständigkeit, die sich Jugendliche während der Pubertät erwerben, sind später im Leben weitaus schwerer zu erringen. Wenn ein Kind nicht pubertiert, bezahlt es oft mit seelischer Unfreiheit. (…) Irgendwann stellt sich Lebensüberdruss ein, das Gefühl der Wertlosigkeit und des Versagens.
- Pubertät hat (…) weniger mit Hormonen zu tun, (…) sondern ist Teil eines komplexen Ganzen, das sich gleichzeitig auf der physischen, seelischen und geistigen Ebene abspielt. (…) Sexualität ist eine starke Macht, aber sie ist nicht alles. Und dass sie überhaupt bewusst werden kann in diesem Alter und so (mit)bestimmend werden, hat mit einem umwälzenden Vorgang ganz anderer Dimension zu tun.
- Pubertät ist die Geburt der (freien) Seele (…), nun wird sie mit einem Mal frei, drängt ungestüm ans Licht. Peer Wüschner schreibt: Die Jugendlichen werden von innen her umgestülpt. (…) Fantasien, Aggressionen und Leidenschaften branden auf, die alle nicht unbedingt gesellschaftskonform sind. Jugendliche lernen Gutes wie Böses kennen, in sich - und beides fasziniert sie gleichermaßen. Denn die Moral, die für das eine und gegen das andere spricht, ist (noch) nicht ihre Moral. Ihre eigene Moral wollen sie erst noch finden.
- Jugendliche fühlen sich nackt, denn mit der Geburt des Seelischen in ihnen wird ihnen bewusst, was sie vorher wenn überhaupt, dann nur träumend fühlten: Die Welt ist nicht nur gut und schön, sie ist voller Bosheit, Hässlichkeit und Lüge. (…) Die Verlockung der Lüge tritt in ihr Leben. Sie ziehen die Vorhänge zu: "Wegen Umbau geschlossen".
- Jeder Jugendliche durchläuft die Pubertät in drei Phasen, die bei unterschiedlichen Jugendlichen unterschiedlich stark ausgeprägt sind: Gedankenpubertät zwischen 13 und 15, die Gefühlspubertät zwischen 15 bis 17, die Willenspubertät ab 17 oder 18 Jahren.
- Hauptaufgabe der Jugendlichen in der Pubertät ist es, sich frei zu strampeln und in dem Chaos, in das sie sich stürzen, einen Weg zu finden, mit dem sie sich identifizieren können. Irgendwo zu Beginn der Reise haben sie sich etwas vorgenommen für dieses Leben. Es zumindest ahnungsweise wieder zu finden, ist DIE Herausforderung der Pubertät. (…) Vertrauen ist die Hauptkraft, aus der heraus Erwachsene Jugendliche in der Pubertät begleiten und unterstützen können: Vertrauen in den "Schutzengel" der Jugendlichen, Vertrauen darauf, dass es gut gehen wird, auch wenn wir die Kontrolle nicht mehr haben. Vertrauen in die Jugendlichen selber, in ihre gute, tragende Seite, das in ihnen verborgen lebende Verantwortungsbewusstsein, in ihre Kraft und ihren Mut, weiter kommen zu wollen.
- Jugendliche während der Pubertät brauchen ein Gegenüber, also Menschen, an denen sie sich reiben können. Menschen, die standhaft bleiben. Jugendliche durch die Wirren der Pubertät zu begleiten, ist nicht immer eine dankbare Aufgabe. Erwachsene werden für die Jugendlichen zu Projektionsflächen für alles, von dem sie sich lossagen müssen, um einen eigenen Standpunkt finden zu können. (…) Deshalb müssen wir die uns zugeschriebene Rolle auch einnehmen: unsere Meinungen, Haltungen, Ansichten offen(siv) vertreten, klar Stellung beziehen und Grenzen setzen. Aber auch zuhören, ernsthaft zuhören und Interesse zeigen.
- Jugendliche haben ein Recht auf Rücksichtslosigkeit, denn Pubertät ist Egozentrik pur. Jugendliche suchen ihren eigenen Weg, wollen nichts Überkommenes ungeprüft bestehen lassen, wollen - und dürfen - sich grundsätzlich nicht "fügen". Dabei testen und sprengen sie immer wieder bewusst und unbewusst die Grenzen von Sitte, Anstand und Moral und übertreten auch einmal das eine oder andere Gesetz.
- Jugendliche suchen "starke" Erwachsene, denn auf nichts reagieren sie verächtlicher als auf sich anbiedernde Erwachsene. Nichts nervt sie mehr als Weinerlichkeit. Gerade in der Pubertät suchen sie Menschen, an denen sie sich orientieren können, keine Jammerlappen, für die sie sich schämen, die sie verachten müssen. Sie brauchen Erwachsene als Vorbilder, als authentische Beispiele – aber solche, die Halt geben, solche, die Stand halten.
- Jugendliche wollen echte Verantwortung (…) und möchte seine Kräfte und Phantasien, seine Unruhe und seine Bedürfnisse in die Gesellschaft einbringen. (…) Sie wollen für voll genommen werden – Erwachsene halten sie zurück! (…) Erwachsene müssen ihnen Aufgaben geben, wirkliche Aufgaben, nicht blosse Übungen, nicht „pädagogisch aufbereitet“ – ohne doppelten Boden, reale Herausforderungen, an denen sie sich beweisen, an denen sie wachsen (und sich auch mal die Finger verbrennen) können.
- Am leichtesten fällt es uns (…) wenn Erwachsene ihr eigenes Leben leben, denn die Zeit der Erziehung ist vorbei. (…) Erwachsene können das als Verlust erleben - und werden es sicherlich auch -, wir können aber auch sehen, dass es nicht nur die Jugendlichen frei lässt, sondern sie auch befreit.
http://www.pubertaetverstehen.ch/ (07-12-10)
http://paedpsych.jku.at:4711/LEHRTEXTE/MutzScheer97.html (05-11-06)
https://lexikon.stangl.eu/590/pubertaet/ (05-11-06)
https://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/GEHIRN/GehirnForschung.shtml (05-11-06)
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