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Risikofaktor Einsamkeit

Allein zu essen ist für einen philosophierenden Gelehrten ungesund.
Immanuel Kant

Einsamkeit ist der Weg, auf dem das Schicksal den Menschen zu sich selber führen will.
Hermann Hesse

Zur Untersheidung: Einsamkeit ist das subjektive Gefühl des Alleinseins, d. h., man ist sich eines emotionalen Abstands zu anderen bewusst und sehnt sich nach erfüllenden Beziehungen. Soziale Isolation ist dabei jener Zustand, der durch einen objektiven Mangel an sinnvollen und nachhaltigen Kommunikations- und sozialen Kontakten charakterisiert ist.

Auf dem Deutschen Kongress für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie stellten Experten 2013 aktuelle Zahlen zur Einsamkeit bei Männern und Frauen im Alter vor und diskutierten Folgen und Risikofaktoren von Einsamkeit. Von den über 65-Jährigen leben nach Untersuchungen die Hälfte aller Frauen und jeder fünfte Mann allein, wobei Männer und Frauen gleichermaßen von Einsamkeit betroffen sind. Das ist insofern erstaunlich, da Frauen im Alter deutlich mehr Risikofaktoren für Einsamkeit aufweisen als Männer, denn sie sind häufiger verwitwet, leiden eher an körperlichen Gebrechen, die ihre Kontaktmöglichkeiten begrenzen, und auch häufiger an Depression und Angst. Doch verfügen Frauen offenbar über Kompensationsmechanismen, die diese Risikofaktoren ausgleichen. Zentral sind dabei nach Ansicht von Experten die sozialen Netzwerke, denn während Frauen oft enge Freundschaften pflegen und intensiven Kontakt zu Nachbarn haben, stehen Männer meist nur mit ehemaligen Arbeitskollegen in Verbindung, doch diese sind häufig keine engen Vertrauenspersonen. Ob die Senioren allein leben oder nicht, ist den aktuellen Studien zufolge dagegen unerheblich, ausschlaggebend ist vielmehr, dass die Senioren über ein intaktes Netz von Sozialkontakten verfügen und es auch nicht als Belastung erleben, allein zu sein. Wer als Senior also seine sozialen Kontakte pflegt, sich Hobbies sucht, die sich auch im Alter und mit anderen gemeinsam aufrechterhalten lassen, hat gute Chancen, sich auch im Alter nicht einsam zu fühlen.
Ein ausgeprägtes Gefühl von Einsamkeit kann sich allerdings sehr negativ auf die physische und die psychische Gesundheit der Betroffenen auswirken, was sich in einem höheren Risiko für Bluthochdruck widerspiegelt oder im Gebrauch von Psychopharmaka, der bei jenen Senioren höher ist, die sich sehr einsam fühlen. Offensichtlich spielt das Gefühl der Einsamkeit über die depressiven Symptome hinaus bei der Einnahme von Psychopharmaka – 19 Prozent der älteren Menschen zwischen 57 und 84 Jahren nehmen Psychopharmaka ein – eine Rolle.

Eine Langzeitstudie von Andrew Steptoe et al. (2013) an 6500 Männern und Frauen im Alter von über 52 Jahren zeigte, dass soziale Isolation häufiger in Bevölkerungsschichten mit weniger Bildung und Wohlstand auftritt. Von den 918 Männern und Frauen, die bis 2012 bereits gestorben waren, gehörten 21,9 Prozent zur Gruppe mit dem höchsten Isolationsfaktor, während nur 12,3 Prozent der Todesfälle in der Gruppe mit dem niedrigsten Isolationsfaktor auftraten. Die Studie belegte, dass besonders die Vereinsamung im Alter eine Häufung bei schweren Gesundheitsproblemen wie Herzerkrankungen, chronische Lungenkrankheiten und Arthritis begünstigen kann. Solche Studien zeigen somit auch, dass Einsamkeit das Leben ebenso stark verkürzen kann wie Rauchen oder starkes Übergewicht, denn anhaltende Gefühle der Isolation setzen den Körper unter Stress, der körperliche Erkrankungen und Depressionen auslösen kann, wobei vor allem bei Männern die Gefahr zu erkranken wächst, wenn enge Bindungen fehlen. Als eine der Ursachen vermutet man, dass der Mensch schon von seiner Biologie her auf Gemeinschaft ausgelegt ist, denn Menschen bewerten generell die Zeit, die sie in Gesellschaft anderer verbringen, meist positiver. Dennoch kann man sich trotz guter sozialer Einbettung einsam und unverstanden fühlen, sodass nicht das Faktum sondern das subjektive Empfinden, sozial isoliert zu sein, maßgeblich ist. Chronische Einsamkeitsgefühle aktivieren das sympathische Nervensystem, das normaler Weise in Gefahrensituationen die Fähigkeiten zu Kampf oder Flucht verbessert, d.h., Einsamkeit bereitet den Körper ebenfalls auf eine drohende Situation vor, was aus evolutionsbiologischer Sicht Sinn macht, denn wer allein ist, hat in der Regel den überlebenswichtigen Schutz der Gruppe verloren. Einsamkeit kann man daher auch als sozialen Schmerz interpretieren, denn wenn man von anderen abgewiesen wird, reagieren dieselben Regionen der Großhirnrinde wie bei körperlichen Schmerzen.

Einsamkeit und Zeiterleben

Im Übrigen haben die Älteren das Gefühl, die Zeit ihres Lebens vergehe immer schneller. Jeder Mensch setzt eine bestimmte Zeitspanne automatisch in Relation zum bisher gelebten Leben, wobei für eine Vierjährige ein Jahr einem Viertel des bisherigen Lebens entspricht, während es für einen Achtzigjährigen nur einem Achtzigstel bedeutet. Nach neueren Untersuchungen hängt es von der Dichte der Ereignisse ab, wie schnell die Zeit subjektiv verstreicht. Es gibt das paradoxe Phänomen, dass die Zeit gerade dann, wenn man sich langweilt und wenig erlebt, im Nachhinein besonders schnell vergangen ist, etwa im Wartezimmer eines Arzt dauert es sehr lange, bis man endlich drankommt, während man sich am Abend wundert, warum der Tag jetzt schon schnell vergangen ist. Untersuchungen in Altenheimen haben diesen Effekt bestätigt: Im Moment selbst verstrich die Zeit für die Probanden langsam, bis es Mittagessen gab oder der Pfleger kam. Fragte man später aber dieselben Heimbewohner, wie schnell der Tag für sie vergangen sei, antworteten sie: sehr schnell. Mit zunehmendem Alter sind Menschen immer weniger offen für Neues, wie aus der Entwicklungspsychologie bekannt ist, doch je mehr Neues und Emotionales man erlebt, desto mehr prägt sich im Gedächtnis ein und desto stärker entschleunigt sich das Leben auch rückblickend.

Menschen, die zu lange alleine oder gar einsam sind, fokussieren sich oft sehr stark auf sich selbst, was dazu führen kann, sich erst recht einsam zu fühlen, wobei die Wandlung zum Egozentriker dazu führen kann, dass Mitmenschen zusätzlich auf Abstand gehen. Cacioppo et al. (2017) begleiteten über zehn Jahre Bewohnern von Cook County, Illinois, wobei die Probanden jährlich umfangreiche Fragebögen auszufüllen haben. Dabei stellte man fest, dass Einsamkeit in einem Jahr mit besonderer Ichbezogenheit im Jahr darauf korrelierte, wobei im umgekehrten Fall Ichbezogenheit wiederum Einsamkeit im Folgejahr begünstigte. Die Gesellschaft anderer Menschen mag zwar anstrengend sein, doch ohne soziales Umfeld mutiert man wohl zum Einzelgänger, indem sich Einsamkeit und Ichbezogenheit gegenseitig hochschaukeln.

Es gibt keine klare Diagnose für Einsamkeit und daher auch keinen statistischen Wert, ab dem jemand einsam ist, sondern man misst das Phänomen der Einsamkeit, indem man Menschen entweder direkt befragt oder indirekt zur sozialen Verbundenheit. Aus den Antworten kann man dann einschätzen, wie hoch der Anteil derjenigen ist, die sich manchmal, oft oder immer einsam fühlen. Sicher ist, dass Einsamkeit zu gravierenden psychischen und körperlichen gesundheitlichen Problemen führen kann, denn chronisch einsame Menschen werden eher depressiv, entwickeln eher Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems und sterben sogar früher im Vergleich zu nicht einsamen Menschen. Luhmann & Hawkley (2016) schätzen, dass zehn bis zwanzig Prozent der Menschen zumindest manchmal von Einsamkeitsgefühlen betroffen sind. Daher wäre es notwendig, die Rahmenbedingungen zu verbessern, um Betroffenen die Teilnahme am täglichen sozialen Leben zu erleichtern, d. h., gezielte Förderung von Initiativen, die sich gezielt an einsame Menschen wenden, kann hilfreich sein. Zusätzlich ist auch ein Ausbau der psychotherapeutischen Versorgung notwendig, denn Menschen, die schon lange chronisch einsam sind, kommen häufig nicht mehr ohne professionelle Unterstützung heraus.

Arten der Einsamkeit

Viele Frauen heiraten, weil sie des Alleinseins müde sind.
Und viele Frauen lassen sich scheiden, weil sie des Alleinseins müde sind.
Hanne Wieder

Peplau und Perlman beschrieben in den 80er-Jahren die Einsamkeit als Diskrepanz zwischen dem Wunsch nach engen Sozialkontakten und dem tatsächlichen Maß an Beziehungen, wobei diese beiden Psychologen dazu beitrugen, die Unterscheidung von Alleinsein und Einsamkeit zu etablieren. Während Alleinsein die objektiv messbare Abwesenheit von Menschen meint, die manchmal durchaus angenehm sein kann, ist Einsamkeit immer negativ, denn sie bezeichnet das subjektive Gefühl, das aus einem empfundenen Defizit in sozialen Beziehungen entsteht, sodass Einsamkeit auch dann entstehen kann, wenn sich bestehende Kontakte nicht nah genug anfühlen, wenn man zwar viele Freunde hat oder umgeben von Menschen ist, sich aber dennoch einsam fühlt.

Psychologen unterscheiden daher in der Regel zwei Formen der Einsamkeit: Die emotionale Einsamkeit, wenn ein Vertrauter fehlt, ein Partner, mit dem man sich verbunden fühlt, und die soziale Einsamkeit, wenn es den Betroffenen grundsätzlich an sozialen Beziehungen mangelt, an Unterstützung durch FreundInnen, Nachbarn oder KollegInnen. Übrigens erleben Verwitwete häufiger als Verheiratete eine die Psyche belastende emotionale Einsamkeit, jedoch seltener soziale Einsamkeit.

Die Einsamkeit erfüllt aber auch eine wichtige Funktion für Menschen, denn so wie Hunger ist sie ein Signal, dass man den Kontakt zu anderen verliert. In der Evolution war es für jedes Individuum wichtig zum Überleben, die Verbindung zur Gruppe zu erhalten, denn Isolation konnte letal sein. Erst in der Gruppe konnte man sich zu behaupten und die eigenen Gene weitergeben.
Das Verlangen nach Menschen so ausgeprägt sein, dass sogar die geistige Leistungsfähigkeiten darunter leidet, denn Einsame können sich schlechter konzentrieren und suchen weniger intensiv nach Lösungen eines Problems als Menschen, die nicht so einsam sind.
Die individuelle Empfindlichkeit für Einsamkeit wird in den ersten Lebensjahren geprägt, wie die Bindungstheorie vermuten lässt, nach der die Beziehung zwischen Kleinkind und Mutter oder einer anderen Bezugsperson auch im späteren Leben noch die Vorlage dafür bildet, wie Menschen das für sie wohltuende Maß an Gemeinschaft finden.  Bartholomew & Horowitz  (1991) unterscheiden bei Erwachsenen vier Bindungsstile, die das Erleben von Einsamkeit beeinflussen:

  • Der sichere Typ macht sich selten Gedanken darüber, dass andere ihn nicht akzeptieren könnten, d.h., er entwickelt schnell erfüllende Beziehungen, aber sorgt sich auch nicht, allein zu sein.
  • Dem ängstlichen Typ fällt es schwer, anderen zu vertrauen und sich geborgen zu fühlen, d.h., er fürchtet, verletzt zu werden, wenn er anderen zu nahe kommt, obwohl er sich gerade dies gelegentlich sehnlich wünscht.
  • Der besitzergreifende Typ erhofft sich enge Verbindungen und möchte gleichsam mit anderen verschmelzen, doch er gewinnt oft den Eindruck, dass andere seinen Wunsch nach Nähe zurückweisen.
  • Der abweisende Typ will auf niemanden angewiesen sein und auch nicht, dass andere von ihm abhängig sind. Aus Sorge, seine Selbstständigkeit einzubüßen, fällt es ihm schwer, innige Beziehungen einzugehen.

Der Bindungstheorie zufolge kann man sich daher auch subjektiv isoliert fühlen, obwohl man objektiv betrachtet nicht allein ist.

Depressionen dürften dabei das Bindeglied zwischen chronischen Einsamkeitsgefühlen und körperlichen Erkrankungen sein, wobei diese das Risiko für Herzinfarkte und Schlaganfälle erhöhen, jedoch werden nicht alle Menschen, die sich einsam fühlen, depressiv. Einsame Menschen fühlen sich daher eher hilflos, depressive Menschen aber eher hoffnungslos, wobei am Tiefpunkt einer Depression Menschen sogar für ihre nächsten Angehörigen keine Gefühle mehr aufbringen können, denn sie fühlen sich wie versteinert und ziehen sich von anderen Menschen zurück. Anders regieren hingegen Menschen, die sozial isoliert sind und sich mehr Kontakt wünschen.

Einsamkeit spiegelt sich im Gehirn wider

Courtney & Meyer (2020) haben die Gehirnaktivität beim Nachdenken über andere Menschen untersucht und konnten zeigen, dass das menschliche Gehirn die Intensität der Bindung zu anderen Menschen widerspiegelt. Sie analysierten die neuronale Aktivität von 43 Männern und Frauen mithilfe der funktionalen Magnetresonanztomografie, während diese über die Merkmale von ihnen selbst, der von engen Freunden oder von prominenten Menschen nachdachten. Dabei unterschied sich das Muster der Gehirnaktivität je nach Bezugsperson, denn das Nachdenken über sich selbst aktivierte andere Schaltkreise, als wenn die Probanden und Probandinnen über enge Freunde oder über nur aus dem Medien bekannte Menschen nachsannen. Dabei waren sich diese Muster umso ähnlicher, je enger sie sich mit der jeweiligen Person verbunden fühlten, sodass für die neuronale Repräsentation die subjektive Beziehung zu diesen Personen entscheidend war, wobei in allen Fällen der mediale präfrontale Cortex aktiv war, also jenes Areal im Stirnhirn, das unter anderem für das Selbstbild zuständig ist. Als man die Hirnaktivität von einsamen Probanden und Probandinnen mit denen von sozial gut integrierten verglich, zeigten sich auffallende Unterschiede, denn zum einen besaßen die einsameren eine schwächere Selbstrepräsentation im präfrontalen Cortex, d. h., ihr Aktivierungsmuster war stärker von anderen Arealen entkoppelt als bei nichteinsamen Teilnehmern. Auch unterschieden sich die neuronalen Muster für das Selbst und für enge Freunde stärker, wobei bei den meisten beim Nachdenken an sich selbst oder an Freunde eine sehr ähnliche cortikale Konstellation aktiviert wurde. Bei Menschen, die unter Einsamkeit litten, war die Repräsentation des Selbst im Gehirn stärker von der Repräsentation anderer Menschen entkoppelt. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass das Gefühl der chronischen sozialen Isolation durch eine isolierte Selbstrepräsentation im Gehirn widergespiegelt wird, doch es bleibt unklar, ob diese neuronalen Unterschiede Ursache oder Wirkung sind. Das soziale Gehirn scheint demnach zwischenmenschlichen Bindungen zu kartografieren, wobei Veränderungen in dieser Karte erklären, ob sich Menschen in einem sozialen Netzwerk befinden oder nicht.

Spreng et al. (2020) haben bei etwa vierzigtausend Menschen im Alter von 40-69 Jahren die Morphologie bzw. die Mikrostruktur der Faserbahnen im Gehirn auf Signaturen von Einsamkeit geprüft. Dabei zeigte sich, dass Menschen, die sich einsam fühlen, ihre Gedanken eher nach innen richten, wobei diese dabei ihre Vorstellungskraft nutzen, um in Erinnerungen an die Vergangenheit zu schwelgen oder Gedanken an die Zukunft zu entwickeln. In Abwesenheit von erwünschten sozialen Erfahrungen sind einsame Personen möglicherweise auf nach innen gerichtete Gedankengänge wie das Erinnern oder Vorstellen von sozialen Erfahrungen zurückgeworfen.

Tomova et al. (2020) haben die Folgen untersucht, wenn Menschen gezwungen sind, sich voneinander zu isolieren. In einem Experiment mit funktioneller Magnetresonanztomographie wurden die neuronalen Reaktionen nach zehn Stunden Fastens oder völliger sozialer Isolation auf Nahrung und soziale Signale gemessen. Nach der Zeit der Entbehrung zeigte man ihnen Fotos von ihrem Lieblingsessen, von gemeinschaftlichen Aktivitäten und neutrale Bilder als Kontrollbedingung. Nach der Isolation fühlten sich die Menschen einsam und sehnten sich nach sozialer Interaktion, wobei die Mittelhirnareale nach dem Fasten und nach der Isolation eine erhöhte Aktivierung auf Essenssignale und auf soziale Signale zeigten. Diese Reaktionen korrelierten dabei mit dem selbstberichteten Verlangen. Neuronale Muster als Reaktion auf Essenssignale, wenn die Teilnehmer hungrig waren, verallgemeinerten sich nach der Isolation offenbar auch auf soziale Signale. Offenbar verursacht soziale Isolation soziales Verlangen ähnlich wie Hunger, sodass Sozialkontakte vermutlich ein menschliches Grundbedürfnis wie Nahrungsaufnahme darstellt. Die Probanden und Probandinnen fühlten sich übrigens einsam, obwohl sie wussten, dass die Isolation zeitlich begrenzt bleiben wird. Man kann auch vermuten, dass soziale Isolation durch Belohnungen anderer Art kompensiert werden dürften, also vermehrte Nahrungsaufnahme.

Wurzeln in der Kindheit

Die Wurzeln der Einsamkeit können oft in der Kindheit liegen, denn es fanden sich deutliche Zusammenhänge zwischen den Lebensumständen in der Kindheit und dem Gefühl der Einsamkeit im Alter. Während schlechte Gesundheit erwartungsgemäß der wichtigste Faktor ist, der mit Einsamkeit im höheren Alter korreliert, machten Persönlichkeitsmerkmale mehr als zehn Prozent der erklärten Varianz aus, darunter die Lebensumstände in der Kindheit sieben Prozent. Die soziale Unterstützung im Alter war mit 27 Prozent die zweitwichtigste Kategorie von Faktoren, wobei interessanterweise die Unterstützung zu Hause und die Merkmale des sozialen Netzwerks jeweils etwa zehn Prozent beitrugen und das Engagement bei Aktivitäten und Computerkenntnisse sieben Prozent der erklärten Varianz ausmachten. Auf demografische und sozioökonomische Faktoren entfielen sechs Prozent und auf länderspezifische Merkmale fünf Prozent. Im Detail: Menschen, die in der Kindheit wenige oder keine Freunde hatten, bei denen sie sich wohl fühlten, hatten ein 1,24 Mal höheres Risiko, später Einsamkeit zu erleben, bei Menschen, die in der Kindheit eine schlechte Beziehung zur Mutter hatten, war das Risiko 1,34 mal, bei jenen, die in ärmeren Verhältnissen aufwuchsen, 1,21 mal höher. Die Studie zeigt insgesamt die Bedeutung von Maßnahmen im frühen Lebensalter für die Bekämpfung der Einsamkeit im Alter und zeigt, dass frühzeitige Maßnahmen und Maßnahmen zur Verbesserung der sozialen Unterstützung im späteren Leben an alle Persönlichkeitstypen angepasst werden müssen.

WHO will gegen Einsamkeit als Gesundheitsrisiko vorgehen

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) untersucht laut einer Pressemeldung vom 15. November 2023, wie Sozialkontakte als Beitrag zu guter Gesundheit gefördert werden können, und setzte dazu eine Kommission ein. Es heißt dort: „Menschen ohne starke soziale Kontakte seien einem höheren Risiko von Schlaganfällen, Angststörungen, Demenz, Depressionen und Suizid ausgesetzt, sagte WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus. Das Risiko eines vorzeitigen Todes sei für einsame Menschen so hoch wie oder höher als das Todesrisiko durch Tabakkonsum, Fettleibigkeit und Luftverschmutzung. Soziale Isolation sei nicht nur ein Phänomen unter Älteren in reichen Ländern, berichtete die WHO. Menschen aller Altersstufen in vielen Ländern litten darunter, wenig Kontakt mit Freundinnen und Freunden sowie Verwandten zu haben. Unter Heranwachsenden seien nach Studien weltweit fünf bis 15 Prozent betroffen, unter den älteren Menschen ein Viertel. Diese Schätzungen seien vermutlich noch zu niedrig. Die neue Kommission soll in den kommenden drei Jahren Pläne dazu entwickeln, wie in Ländern aller Einkommensstufen Sozialkontakte gefördert werden können. Sie soll auch den Einfluss guter Sozialbindungen auf die wirtschaftliche und soziale Entwicklung von Gesellschaften untersuchen.“

Salinas et al. (2022) haben den Zusammenhang zwischen Einsamkeit und Demenzrisiko untersucht und festgestellt, dass Einsamkeit mit einem erhöhten Risiko verbunden ist, über einen Zeitraum von zehn Jahren eine Demenz jeglicher Ursache zu entwickeln.

Digitale Tools zur Erfassung der Einsamkeit

Die Gesundheitsmanagerin Leonie Cammerlander hat sich an der Fachhochschule Burgenland mit neuen digitalen Werkzeugen auseinandergesetzt, die es etwa Fachkräften in der Pflege oder in Sozialberufen erleichtern sollen, Einsamkeit zu erkennen und Maßnahmen dagegen zu entwickeln, die auf die Betroffenen abgestimmt sind. Bei den digitalen Werkzeugen handelt es sich um Screening Tools – also um Instrumente zur ersten groben Untersuchung von Personen auf das Vorliegen einer Gefährdung oder Erkrankung, die im EU-Projekts „Digi-Ageing“  von einem Konsortium aus sieben internationalen Institutionen entwickelt wurden. Dazu gehört als erste Stufe ein digitaler Schnelltest („Loneliness Quick Check“) – ein standardisierter Fragebogen, durch den in fünf bis zehn Minuten festzustellen ist, ob ein mittleres oder höheres Risiko für Einsamkeit vorliegt, wobei eine kürzliche Pensionierung, ein fehlendes soziales Netzwerk, Mobilitätseinschränkungen, ein kürzlicher Umzug oder keine Internetnutzung dieses erhöhen. Liegt ein erhöhtes Einsamkeitsrisiko vor, schließt sich als zweite Stufe ein detaillierteres Screening an, das etwa 20 Minuten in Anspruch nimmt (University of California Loneliness Assessment). In einer Karte wird anschließend das soziale Netzwerk des älteren Menschen – Familie, Verwandte, Freunde, Nachbarn – detailliert erfasst und gemeinsam analysiert. Darauf aufbauend wird ein Aktionsplan für die nahe Zukunft erstellt, also erste kleine Schritte, die zur Aktivierung der älteren Menschen beitragen. Link (Registrierung notwendig!): http://digi-ageing.eu/de/registration-de/

Literatur

Bartholomew, K., & Horowitz, L. M. (1991). Attachment styles among young adults: A test of a four-category model. Journal of Personality and Social Psychology, 61, 226-244.
J. T. Cacioppo, H. Y. Chen, & S. Cacioppo (2017). Reciprocal Influences Between Loneliness and Self-Centeredness: A Cross-Lagged Panel Analysis in a Population-Based Sample of African American, Hispanic, and Caucasian Adults. Personality and Social Psychology Bulletin, 43, 1125-1135.
Courtney, Andrea L. & Meyer, Meghan L. (2020). Self-other representation in the social brain reflects social connection. The Journal of Neuroscience, doi:10.1523/JNEUROSCI.2826-19.2020.
Luhmann, M., & Hawkley, L. C. (2016). Age differences in loneliness from late adolescence to oldest old age. Developmental Psychology, 50(6), 943-959. doi: 10.1037/dev0000117.
Salinas, Joel, Beiser, Alexa S., Samra, Jasmeet K., ODonnell, Adrienne, DeCarli, Charles S., Gonzales, Mitzi M., Aparicio, Hugo J. & Seshadri, Sudha (2022). Association of Loneliness With 10-Year Dementia Risk and Early Markers of Vulnerability for Neurocognitive Decline. Neurology, doi: :10.1212/WNL.0000000000200039.
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https://orf.at/stories/3339902/ (23-11-15)
https://www.diepresse.com/18272425/schnelltest-macht-sie-ihre-einsamkeit-schon-krank (24-03-16)

Quelle: http://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/EMOTION/Depression.shtml (11-02-02)


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