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Promenadologie

*** Hier KLICKEN: Das BUCH dazu! *** Die Promenadologie (Spaziergangswissenschaft) ist die Wissenschaft vom Spazierengehen, wobei diese von Lucius Burckhardt begründet wurde, und zwar in den achtziger Jahren aus Elementen der Soziologie und des Urbanismus. Diese Kasseler Professur, der einzige Lehrstuhl für Spaziergangswissenschaften (Fachbereich Architektur, Stadtplanung, Landschaftsplanung), wird von Martin Schmitz weitergeführt. Promenadologie hat nichts mit lockerem Spazierengehen zu tun und auch nicht mit müßigem Wandeln durch die Landschaft, sondern es geht beim Spazierengehen um das konzentrierte, das bewusste Wahrnehmen der Umwelt. Es heißt auf der Homepage des Lehrstuhls: „Ein Spaziergang ist eine Perlenschnur, die von einem bemerkenswerten Ort – den Perlen – zum nächsten führt. Auf den neutralen Strecken dazwischen überlegt man sich, wie wohl der nächste bemerkenswerte Ort aussehen werde. Normalerweise bereitet der vorangegangene Ort auf den nächsten vor. Da unsere Landschaft in Zonen organisiert ist, folgen sich die Orte in einer logischen Ordnung: der Uferwald, die Dünen, der Strand, das Meer… Auch die Stadt ist normalerweise so organisiert: jeder Ort gibt Auskunft über die nachfolgende Zone: auf den Bahnhof folgt das Bahnhofsviertel mit Geschäftshäusern von Anfang des letzten (vorletzten) Jahrhunderts, dann markiert ein Strassenring die verschwundenen alten Befestigungsanlagen, und jenseits der einstigen Stadtmauer beginnt die mittelalterliche Stadt mit krummen Gassen, alten Geschäften, Kirchen. Schliesslich nähern wir uns den Zeichen des Zentrums, Rathausplatz, Kathedrale, Bischofssitz. Würden wir nicht mit der Bahn, sondern mit dem Fallschirm in die Stadt katapultiert, wir wüssten von jedem Ort aus, wie es weitergeht und wie wir ins Zentrum oder an die Peripherie kommen.“

Da der Fortschritt die Welt und den Menschen verändert, ist unumgänglich, dass er sich dabei von der Umwelt entfremdt und verlernt, die Welt um sich herum wahrzunehmen. Zwar suchen die Menschen immer mehr nach Idylle und Landschaft, streben aber dennoch weiter in die Städte, wobei sich mit diesem Widerspruch  die Spaziergangswissenschaft beschäftigt. Der menschliche Blick auf die Landschaft hat sich rasant verändert, wobei die erste Revolution die Eisenbahn gewesen ist, denn mit einem Mal hat sich der Mensch viel schneller durch seine Umwelt bewegt, der Blick sich zwangsläufig verengt. Auch wenn der moderne Menschen heute spazieren geht, entgehen ihm viele Details, die seinen Vorfahren mit Sicherheit aufgefallen wären. Das Auto hat diese Revolution der schnellen Fortbewegung fortgesetzt und das Flugzeug hat sie schließlich auf die Spitze getrieben. Auch Google Earth und GPS befördern diese Tendenz, sich zwar immer besser zurechtzufinden aber immer weniger zu sehen. Menschen haben dadurch verlernt, Landschaften zu sehen, vor allem Details werden in unserer Beobachtung überflüssig und werden gar nicht mehr wahrgenommen.

Die Spaziergangswissenschaft leitet den Menschen an, die Augen wieder zu öffnen und die umgebende Welt wieder in die Köpfe zurückzuholen. So sollten die Menschen einfach das Naturkino wie das Ändern des Wetters wieder wahrnehmen. Ziel der Promenadologie ist das konzentrierte und bewusste Wahrnehmen der Umwelt und dabei das Weiterführen des bloßen Sehens zum Erkennen. Laut Schmitz hat der technische Fortschritt auch zu einer Entfremdung und Wahrnehmungsveränderung des Menschen im Bezug zu seiner Umwelt geführt. Der Spaziergang sollte sowohl ein „Instrument“ zur Erforschung der alltäglichen Lebensumwelt, als auch eines zur Vermittlung von Inhalten und Wissen darstellen. Der Spaziergang ist insbesondere geeignet, Raumeindrücke und räumliche Bezüge unmittelbar zu vermitteln, da Raum letztlich nur durch die eigene körperliche Bewegung durch denselben erfahrbar ist und etwa durch „rein wissenschaftliche Beschreibung“ nicht erfassbar ist. Spaziergänge bewahren daher nicht nur die körperliche Spannkraft, sondern halten Studien zufolge beim bewussten Wahrnehmen der Umwelt auch den Geist in Form. Amerikanische Forscher haben etwa in einer Langzeitstudie beobachtet, dass Menschen, die etwa zehn bis fünfzehn Kilometer in der Woche zu Fuß zurücklegen, ein größeres Volumen grauer Hirnsubstanz aufweisen als jene, die weniger zurückgelegt hatten.
Anmerkung: Die letztgenannte Studie verführte übrigens Journalisten zu folgenden Schlagzeilen:

  • Zu Fuß gehen kann das Gehirn vor dem Schrumpfen schützen
  • Wandern hält das Gehirn groß
  • Wandern lässt Gehirn wachsen
  • Spaziergänge halten das Gedächtnis frisch

Kühn et al. (2021) haben den Zusammenhang zwischen dem Aufenthalt im Freien und der strukturellen Plastizität des Gehirns in Verbindung mit selbstberichteten Affekten untersucht. Sie haben dafür die Day2day-Studie ins Leben gerufen, die eine eingehende Bewertung der Variabilität der Gehirnstruktur in einer seriellen Abfolge von 40-50 strukturellen Magnetresonanztomographien von sechs jungen, gesunden Teilnehmern über einen Zeitraum von 6-8 Monaten umfasste. Eine Analyse des Gehirns ergab, dass die Zeit, die im Freien verbracht wurde, positiv mit dem Volumen der grauen Substanz im rechten dorsolateralen präfrontalen Cortex und mit positiven Affekten assoziiert war, und zwar auch nach Kontrolle von körperlicher Aktivität, Flüssigkeitsaufnahme, Freizeit und Sonnenscheinstunden. Die Ergebnisse deuten demnach auf eine möglicherweise verhaltensrelevante Plastizität der Gehirnstruktur schon innerhalb eines kurzen Zeitraums hin, die durch die täglich im Freien verbrachte Zeit bestimmt wird. Dies deckt sich mit anekdotischen Belegen für die gesundheits- und stimmungsfördernde Wirkung von Spaziergängen.


Das Leben in der Großstadt

Der Einfluss, den das Leben in der Großstadt auf das menschliche Gehirn hat, ist noch kaum erforscht. Immerhin weiß man, dass die Bewohnern einer Metropole weitaus mehr an Angst- und Affektstörungen leidenden als die Bewohnern auf dem Land. Im Gehirn eines Stadtbewohners reagiert die Amygdala auf Stresssituationen wie Bedrohungen und Herausforderungen wesentlich schneller und auch überschießender. In der Großstadt muss das Gehirn einerseits in ständiger Bereitschaft sein und unzählige Reize verarbeiten, andererseits muss es in einer Form der Anpassung oder Abstumpfung bleiben, die es ihm erlaubt, Energie zu sparen. Deshalb gehen die Menschen in Großstädten auf der Straße auch schweigend und blickvermeidend aneinander vorbei, als würde sich jeder in seinem eigenen Korridor bewegen, und sie agieren erst dann, wenn etwas ihre Aufmerksamkeit auf sich zieht, wenn eine kommunikative Verdichtung eintritt, wenn sie etwa vor der Herausforderung einer sozialen Interaktion stehen. Der Bewohner einer Metropole wird also erst aufmerksam, wenn er entweder eine Bedrohung empfindet oder neue Möglichkeiten und einen damit verbundenen Nutzen erkennt.

Literatur

Kühn, Simone, Mascherek, Anna, Filevich, Elisa, Lisofsky, Nina, Becker, Maxi, Butler, Oisin, Lochstet, Martyna, Mårtensson, Johan, Wenger, Elisabeth, Lindenberger, Ulman & Gallinat, Jürgen (2021). Spend time outdoors for your brain – an in-depth longitudinal MRI study. The World Journal of Biological Psychiatry, doi:10.1080/15622975.2021.1938670.
http://www.spaziergangswissenschaft.de/
http://sciencev1.orf.at/sciencev1.orf.at/science/news/147467.html
http://www.uni-kassel.de/fb6/person/burckhardt/promenadologie.html
https://www.nzz.ch/feuilleton/and-who-are-you-talking-to-laengst-hat-sich-die-grossstadt-den-weg-in-das-hirn-des-modernen-menschen-gebahnt-ld.1485354 (19-06-29)


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