Sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen

Wolfgang Sellitsch, Kinder- und Jugendanwalt Steiermark

Sexuelle Ausbeutung von Kindern, fälschlich oft als "sexueller Mißbrauch" bezeichnet, ist eine besondere Ausprägung von Gewalt an Kindern, die erst im letzten Jahrzehnt aus der Tabuzone in die öffentliche Diskussion rückte. Kaum ein Tag vergeht, ohne daß in den Medien spektakulär über sexuelle Kindesmißhandlung berichtet wird. Dabei wird der Ruf nach strengerer Bestrafung der Täter gefordert. An der dahinterstehenden Problematik, vor allem für die betroffenen Kinder, geht die öffentliche Skandalisierung und ausschließliche strafrechtliche Behandlung jedoch völlig vorbei. Die Kriminalstatistk weist für das Jahr 1995 österreichweit 602 angezeigte Fälle sexueller Ausbeutung von Kindern aus. Allein 80 Fälle entfallen davon auf die Steiermark, ein knappes Viertel entfällt davon auf die Landeshauptstadt Graz, wo gegenüber dem Vorjahr mit 21 angezeigten Fällen eine Steigerung von 50% zu verzeichnen ist. Daß von dieser Gesamtzahl nur in knapp 30% eine gerichtliche Verurteilung der Täter erfolgt, wird jedoch verschwiegen. Da sich in 9 von 10 Fällen sexuelle Übergriffe innerhalb der Familien ereignen, werden 6 von 10 Kindern, die ein äußerst belastendes Strafverfahren hinter sich haben, nicht nur als Lügner und Phantasten abgestempelt, sondern auch noch weiterhin sexuell ausgebeutet.

Zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen und Publikationen(1) belegen, daß es sich bei den angezeigten Fällen nur um die Spitze eines Eisberges handelt.
Die Dunkelziffer schwankt demnach in Österreich zwischen 10.000 und 25.000 Fällen, wobei jedes 3. Mädchen und jeder 5. Bub (2) zum Zwecke sexueller Befriedigung durch eine erwachsene oder deutlich ältere Person ausgenützt werden.

Dabei wird zwischen schwerer (versuchter oder vollendeter vaginaler oder analer Geschlechtsverkehr, manuelle oder orale Befriedigung) und weniger schwerer sexueller Ausbeutung (Berührungen der Genitalien, Brust und Schenkel) unterschieden. Das durchschnittliche Alter der Opfer liegt bei 10 Jahren, Kinder im Vorschulalter sind vermehrt betroffen. Die innerfamiliären Übergriffe erstrecken sich oft über einen Zeitraum von mehreren Jahren, wobei sich die Intensität der sexuellen Handlungen steigerte.

Die Ursachen für dieses Phänomen sind äußerst vielschichtig, haben jedoch eines gemeinsam: Kinder werden nicht als eigenständige Menschen mit Bedürfnissen, Wünschen und dem Recht auf Achtung ihrer Würde angesehen, sondern vielfach als Besitz oder notwendiges Übel, die sich den mitunter auch sexuellen Wünschen Erwachsener zu fügen haben. Gerade der Machtmißbrauch des Erwachsenen gegenüber dem völlig abhängigen Kind, dessen Identitätsgefühl brutal gebrochen wird, führt letztlich zum "Seelenmord". Die Folgen reichen von massiven körperlichen und psychischen Störungen bis hin zum Selbstmord.

Ein Großteil der Inzestopfer findet sich unter den Alkohol- und Drogenabhängigen (70%) und den Prostituierten (35-90 %) oder wird selbst zu Tätern (80%).(3)

Die Schwierigkeit, effizient und sinnvoll zu intervenieren, liegt auf der Hand:
Mehr als 90% der Kinder werden im familiären Bereich ausgebeutet, sind entweder zu klein, um sich verständlich auszudrücken und Hilfe zu organisieren, oder werden unter Druck gesetzt und schweigen aus Angst vor dem Zerfall der Familie, einer möglichen Fremdunterbringung bzw. der Strafhaft des Täters. Andererseits gibt es kein spezifisches Täterprofil, welches auf "kranke, irre Gewalttäter" schließen ließe. Es handelt sich vielmehr um ganz normale Männer aus allen gesellschaftlichen Schichten.

Auch eine Reihe von gesellschaftlich weit verbreiteten Vorurteilen und Denkmustern erschwert eine Auseinandersetzung mit der Problematik:

Die Möglichkeiten der Strafjustiz zur Lösung des Problemkomplexes sind in mehrfacher Hinsicht unzureichend: Ihre Aufgabe ist es, sozial unerwünschtes Verhalten nach Scheitern aller übrigen verfügbaren staatlichen Maßnahmen, gleichsam als letztes Mittel, zu korrigieren.

Seit der Strafprozeßreform 1994 gibt es die Möglichkeit der "kontradiktorischen, schonenden Vernehmung" minderjähriger Tatopfer unter Einsatz von Videotechnik und Beiziehung von Psychologlnnen und Vertrauenspersonen, wodurch dem Kind die direkte Konfrontation mit dem Täter im Gerichtssaal und eine Wiederholung seiner Aussage in der Hauptverhandlung erspart bleibt. Der gesamte, wenig kindgerechte Verfahrensablauf, bei dem das Kind keine entsprechende rechtliche und therapeutische Unterstützung erfährt, führt sehr oft zu einer weitergehenden Schädigung. Obwohl es offenkundig ist, daß die abschreckende Wirkung von noch so strengen Strafen speziell bei Sexualstraftätern kaum gegeben ist, wird ihnen auch im Strafvollzug keinerlei Möglichkeit gegeben, sich im Wege einer Psychotherapie mit ihrem Fehlverhalten auseinanderzusetzen(4) . Die hohen Rückfallsquoten bestätigen dies.

Die sozialtherapeutischen Ansätze versuchen der Problematik nach dem Grundsatz "Hilfe statt Strafe" gerecht zu werden. Da Strafdrohungen Vertrauensbildung und damit Nachfrage und Annahme von Hilfe verhindern, wurden die Mitarbeiterlnnen im Bereich öffentlicher Beratungsstellen, der Sozialarbeit wie auch der Pädagogik seit dem Jahr 1994 von der Anzeigepflicht befreit, soweit die Interessen des betreuten Kindes vertrauliche Behandlung rechtfertigen.(5) Konsequenterweise wäre diese Befreiung bei allenfalls notwendigen pflegschaftsbehördlichen Maßnahmen auch auf Pflegschaftsrichter auszuweiten.

Damit wurde der Grundstein dafür gelegt, den unheilvollen Opfer-Täter-Opfer-Kreislauf zu durchbrechen und ohne Zeitdruck für beide Seiten Unterstützung zu organisieren. Das bedeutet jedoch nicht, um jeden Preis den Täter zu schützen, sondern im Interesse des betroffenen Kindes Kooperation zwischen allen Beteiligten zu ermöglichen und auf dieser Basis das Opfer vor weiteren Übergriffen zu schützen. Die Erkenntnis, daß eine Heilung von Gewalterlebnissen nur durch eine intensive Beziehungsarbeit möglich ist, wird leider viel zu wenig beachtet. Erfolgreiche Interventionsmodelle(6) belegen dies.

Als weiteren Schritt, Kinder vor sexueller Ausbeutung zu schützen, ist das im Oktober 1994 in Kraft getretene Herstellungs-, Vertriebs- und Besitzverbot von Kinderpornographie zu begrüßen.
Aufgrund meiner Vorbetrachtungen und der bisher als Kinder- und Jugendanwalt in zahlreichen Einzelfällen und Expertengesprächen gemachten Erfahrungen erscheint es mir ganz wesentlich, das Schwergewicht bei der Bekämpfung sexueller Ausbeutung von Kindern auf Vorbeugungsmaßnahmen zu konzentrieren:
Kinder sollen dazu erzogen und ermutigt werden, selbständig zu denken, zu handeln und lernen, ihre Wünsche zu äußern und sich gegen Übergriffe zu wehren.

Im Einklang mit der UN-Konvention über die Rechte des Kindes besteht daher folgender Maßnahmen- bzw. Reformbedarf:

(1) Baurmann, in: Sexueller Mißbrauch von Kindern in Österreich, BM für JF 1993, S. 22

(2) Biebl/Kinzl, in: "Expertenbericht zum UN-Übereinkommen über die Rechte des Kindes", BM f JF 1993, S. 242

(3) Hönigl/Zapotoczky, in: „Spätfolgen nach sexuellem Mißbrauch" 1995

(4) Margarethe Zöchling: Ergebnisse von Psychotherapien anhand der Rückfallsquote in Österreich, in: "Sexueller Mißbrauch von Kindern in Österreich " BM f. JF 1993, S.92ff

(5) §84 Abs.2 StPO samt Erläuterungen

(6) Rotraud Perner: PLISSIT-Modell, in: „Zeugin der Lüste - Lust und Frust der Rundfunksexualberatung" 1991

(7) Artikel 34, UN-Konvention über die Rechte des Kindes:
Die Vertragsstaaten verpflichten sich, das Kind vor allen Formen sexueller Ausbeutung und sexuellen Mißbrauchs zu schützen.
Zu diesem Zweck treffen die Vertragsstaaten insbesondere alle geeigneten innerstaatlichen, zweiseitigen und mehrseitigen Maßnahmen, um zu verhindern, daß Kinder
a) zur Beteiligung an rechtswidrigen sexuellen Handlungen verleitet oder gezwungen werden; b) für die Prostitution oder andere rechtswidrige sexuelle Praktiken ausgebeutet werden;
c) für pornographische Darbietungen und Darstellungen ausgebeutet werden.

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